Von wegen verloren!
Reaktion/Leserbrief auf den Artikel Intellektuellensehnsucht vom 19.9. in der NZZ und eine Kolumne von Peter Schneider im Tagesanzeiger vom 30.9.2015 (unveröffentlicht)
Kunst+Politik ist eine Listenverbindung mit SP/AL/Zentrum und den Grünen eingegangen. Auch wenn am 18. Oktober 2015 kein Kandidat, keine Kandidatin der Liste 23 in den Nationalrat gewählt wird, sind die Stimmen keineswegs verloren. Auch wenn es so in der NZZ zu lesen war. Es stimmt nicht.
Das ist das eine, das Wichtigste, vielleicht Match- oder Machtentscheidende. Aber es gilt noch andere Missverständnisse auszuräumen. Sollen Kunstschaffende in den Nationalrat steht über dem Artikel. Wozu die Frage? Warum sind es immer die Kunstschaffenden, die damit konfrontiert werden, sie sollten bei ihrem Leisten bleiben, sie sollten doch tun, was sie am besten können. Ebenso könnte man einem Anlageberater mit Nationalratssitz sagen, er solle doch lieber Anlageberaten, einer Fabrikbesitzerin, sie solle sich aufs Fabrikbesitzen konzentrieren, oder einem Lehrer, er solle seine Schulklasse nicht im Stich lassen.
Werk vs. politisches Engagement?
Ich bin dankbar für Roman Buchelis Empfehlung von Giovanni Orellis «Walaceks Traum», das ich (wie wohl leider die meisten StimmbürgerInnen) noch nicht gelesen habe. Ich glaube nur zu gern, dass dieses Werk eine andere Substanz, eine grössere Komplexität, zweifellos mehr Poesie besitzt als alles, was Orelli während seiner Jahre im Tessiner Kantonsparlament geäussert hat.
Aber ist es deswegen irrelevant für Orellis Werk, dass er sich politisch engagiert hat? Ist es irrelevant, dass Gottfried Keller, bevor er «Martin Salander» geschrieben hat, viele Jahre im Staatsdienst tätig war? Nun sage bloss keiner, die Jahre im Staatsdienst hätten dem Mann also gutgetan, heisst es im Artikel. Ob es Keller selbst gut getan hat, wer will das sagen. Ob es seiner Literatur gut getan hat? Wieso nicht? Wieso sollte zum Beispiel ein Autor, eine Autorin, die vier Jahre im Nationalrat sitzt, dadurch nicht ein grösseres Verständnis der Machtverhältnisse, der Zwänge, der Verstrickungen, ja des gesamten Systems bekommen, das ihm oder ihr ermöglicht, einen klugen Roman von politischer Bedeutung zu schreiben? Ein Theaterstück oder Gedichte. Man weiss doch, dass Leben und Schreiben nicht voneinander zu trennen sind.
Bisschen mehr Frisch, bisschen mehr Welthaltigkeit?
Wie sollen wir es denn machen? Schreiben wir über unser Leben, über das, was wir kennen, wird uns das Wort Saturiertheit an den Kopf geworfen. Besuchen wir Literaturinstitute, rät man uns, erstmal was Richtiges zu lernen. Schweigen wir zur Politik, ruft man nach Frisch. Sind unsere Texte introspektiv, spricht man von Nabelschau, fehlender Welthaltigkeit. Ist die Welt denn im Parlament nicht zu finden?
Ich bin vollkommen einverstanden damit, dass es der aktuellen literarischen Produktion eines Autors/einer Autorin nicht gut tut, im Parlament zu sitzen. Ganz sicher nicht. Ebenso wenig wie 100% zu arbeiten oder drei Kinder grosszuziehen. All das hält vom Schreiben ab. Und ich würde jede verstehen, die statt nach Bern zu fahren, in der wenigen Zeit, die sie hat, lieber ein Buch schreibt, das vielleicht einmal von grosser Bedeutung sein wird.
Der lange Atem
Denn ich glaube, dass Bücher Menschen und damit auch die Welt verändern, dass Literatur Einfluss hat. Aber in den seltensten Fällen kurzfristig. Literatur ist überhaupt etwas für den langen Atem. Bis Orelli sein Buch geschrieben, bis ein Verlag es veröffentlicht, bis ein grösseres Publikum es gelesen hat, werden unzählige Gesetzesänderungen beschlossen, kommen unzählige Initiativen zur Abstimmung, werden Entscheidungen getroffen, die die Zukunft der Menschen verändern. Wenn ich das eine erreichen oder das andere verhindern will, wird er sich vielleicht gesagt haben, dann kann ich das nicht mit meinem Buch tun.
Und zum Glück geht es ja nicht um eine Entscheidung zwischen Kunst und Politik. Es geht auch nicht um die Entscheidung zwischen politischer Kunst und kunstvoller Politik. Es geht überhaupt nicht um entweder oder.
Unabhängig bleiben
Orelli war vier Jahre im Kantonsparlament. Für die SP. Bleibt die Frage, wozu es eine Gruppierung Kunst+Politik braucht. Wieso man sich nicht, wie Orelli, einer bestehenden Partei anschliesst. Ein Grund könnte sein, dass man unabhängig bleiben möchte. Dass man sich keinem Parteiprogramm verpflichten möchte. Kunstschaffenden sagt man ja einen Hang zu Unabhängigkeit nach. Selten haben sie Vorgesetzte. Im besten Falle sind sie mit ihrer Kunst niemandem verpflichtet. Ein anderer Grund könnte sein, dass man es für erstrebenswert hält, wenn Kunstschaffende im Parlament überhaupt vertreten sind. Und dafür muss man nicht glauben, Kunstschaffende seien die besseren Menschen. Man kann das wegen der Vielfalt für erstrebenswert halten. Ja, es sollten auch mehr Bauarbeiter, Sozialhilfeempfänger, mehr Kioskbetreiberinnen und Kellner vertreten sein. Das Gastgewerbe ist derzeit überhaupt nicht repräsentiert.
So oder anders
Aber es gibt noch mehr, was für beispielsweise Autorinnen und Autoren im Parlament spricht. Sie haben sich für ein Leben entschieden, das ihnen erlaubt, Distanz zu nehmen, einen Schritt zurück zu treten, sich Zeit zu lassen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Selten wartet jemand ganz dringend auf ihr Produkt. Sie müssen sich ihrer Arbeit wegen in andere Menschen hineinversetzen können. Sie müssen sich eine dünne Haut bewahren. Und sie haben ein besonderes Verhältnis zur Sprache. Sie wissen, wie man mit Sprache manipulieren kann, was man der Sprache antun kann, sie erkennen es, wenn sie es sehen. Das alles gehört, so glaube ich, zum Berufsbild einer Autorin. Und ähnliches kann man über die anderen Künste sagen, mit denen ich mich weniger gut auskenne. Nein, das macht die Kunstschaffenden überhaupt nicht zu besseren Menschen, aber zu solchen, deren Stimmen im Parlament ebenso vertreten sein sollten wie andere.
Kunst+Politik ist keine Partei, auch keine Quasi-Partei, Kunst+Politik ist ein Verein, dessen Mitglieder sich seit 2010 mit künstlerischen und anderen Mitteln für ihre Vision von Gesellschaft einsetzen.