Nicht das Heidi *
»Nichts fehlt dir, gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Ding, und vor lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!«
Ich bin nicht das Heidi. Adelheid heiße ich. Wie meine Mutter. Bin weder Meitli noch Mami noch Grosi. Neutralisieren könnt ihr euch selbst. Auch kein Fräulein. Kein Mädchen. Adelheid heiß ich, und wenn ihr mich nochmals verwendet, im Abstimmungskampf, Zweitwohnung oder zweite Röhre, wenn ihr noch einmal fragt, was das Heidi wohl sagen würde, ein Plakat noch, ein Flyer: Dann seid ihr mich los. Nichts sagt das Heidi. Jetzt spricht die Adelheid. Und mir langets.[i] Benutzt mich noch einmal. Ein Theaterstück noch zum Wahlauftakt. Einmal noch: Fremdbestimmung in Frankfurt[ii], Freiheit daheim auf der Alp. Dann nehm ich den Hut. Oh, ich kenne mich aus. Mit der Fremdbestimmung. Sie hören das Heidilied von den Rebels. In der Fremdbestimmung bin ich daheim. Eure Version von Freiheit bereitet mir Alpträume. Schluss mit der Kinderarbeit. Kein Joghurt mehr und kein Müesli. Wegen euch reagier ich intolerant auf Laktose[iii]. Nichts gegen Geißen, ich mag diese Tiere. Aber ich will auch mal ohne sie raus. Früher war das Meckern nur ihr Ressort. Und ich hab gelächelt. Aber damit ist Schluss. Ich bin nicht das Heidi. Adelheid ist mein Name. Die von der edlen Gestalt. Mit Heidentum hat das gar nichts zu tun. Aber fromm bin ich auch nicht mehr. Tut mir leid. Ich bete nicht mehr wie früher. Der liebe Gott wird’s schon richten. Die Johanna, so heißt meine andere Mutter, die hat das geglaubt. Hat wohl darauf vertraut. Warten und beten. Warten und beten. Seither ist vieles passiert. Vieles bachab. Wenn sie wüsste, Johanna, sie würde rotieren in ihrem Grab auf dem Sihlfeld. Doch, ich kenn noch immer die Namen der Blumen. Weißröschen und Tausendgüldenkraut. Aber ich kenn jetzt auch Beznau und Mühleberg. Ich lebe im Tal und ich lese die Zeitung. Ich kann lesen und wählen. Ja, ich wohne tatsächlich in Zürich. Die Johanna gehe ich manchmal besuchen. Es bringen noch andere Blumen aufs Grab. In der Hardau wohn ich, im 22. Stock. Ich liebe den Ausblick über die Stadt, über die Gleise, bis zu den Bergen. Ich liebe die Berge. Noch immer. Natürlich. Die können ja nichts dafür. Es geht ihnen auch nicht viel besser als mir. Ich fahr immer noch gern nach Graubünden. Geh regelmäßig dort wandern. Bloß nicht barfuß. Und auch nicht im Heidiland, sicher nicht. Wart ihr mal dort? Schon an der Raststätte schrillt zu jeder vollen Stunde das Lied: Komm nach Haus. Find dein Glück. Und habt ihr gesehn, was im Heididorf los ist? Heidiwurst. Heidiwein. Heidikaffee. Heidi Schoggi.[iv] Heidi ist überall. Mit Ziege, mit Peter, mit hüpfenden Zöpfen. In blond![v] Wäre euch offenbar lieber gewesen. Oder sind daran die Amerikaner schuld? Heidi of the Alps. Die goldlockige Shirley Temple. Die blondgeflochtene Jennifer Edwards. Ich bin nicht blond und ich bin nicht das Heidi, nicht Unschuld vom Lande, nicht heilige Einfalt. Ich bin nicht der Engel im Haus.[vi] Ich bin Adelheid, die nicht schlafwandeln muss, um den Ausgang zu finden. Ich verdien mir die weißen Brötchen jetzt selbst. Freie Mitarbeiterin bei der Blindenbücherei.[vii] Nein, ich bin nicht in fremde Herrschaft geraten. Danke Öhi. Danke Doktor. Nichts gegen die beiden. Sie haben jetzt eine Alters-WG im Jura. Zufrieden so weit. Hätten bloß gerne ihre Ruhe. Aber die lässt ihnen keiner. Jetzt also Bruno Ganz.[viii] Nichts gegen Bruno Ganz. Aber könnt ihr nicht mal was andres verfilmen! Irgendwas anderes. Solange es nicht der Tell ist. Ich hab neulich noch mit der Hedwig telefoniert. Wilhelm habe ein Burnout. Dem sei alles zu viel geworden. Dass sie ihn jetzt auch noch Willy nennen. Jetzt muss wieder der Walter den Kopf hinhalten. Sucht euch doch mal ein paar andere Stoffe. Es gibt so viele Bücher. So viele Geschichten. Überall auf der Welt. Aber die Deutschen, die mussten ja unbedingt den japanischen Trickfilm computeranimieren. Heidi neu in 3D.[ix] Sperrt immer noch ihren Halbkreismund auf. Trägt noch dieselben farbigen Kleider. Bloß der Song ist jetzt aufgepeppt, und Heidi und Peter sind schlanker geworden. Ich bin nicht das Heidi. Adelheid heiß ich und hab keinen Body-Maß-Index. Ich bin massenuntauglich. Bin nicht mit der Heidi vom Laufsteg verwandt. Die war grade geboren, als Gitti und Erika durch die deutschen Wohnzimmer plärrten.[x] Jetzt macht sie Werbung für Burger und Joghurt-Gums. Verdient wenigstens was, an ihrem Namen, an ihrem Brand. Oder ihr Vater.[xi] Mein Name ist nicht geschützt. Switzerland’s Eternal-Gratis-Top-Model. Wenigstens hatte die Johanna einen Lebensabend in Wohlstand. Aber 50 Millionen verkaufte Bücher. In 50 verschiedenen Sprachen. Wer verdient daran? Ganz abgesehen vom Merchandising. Ich sage euch. Eine Kampagne noch. Ein neues Produkt. Und ich mache die Fliege. Dem Bergadler gleich. Der war schon immer mein Vorbild. Mit scharfen Sinnen den Überblick behalten. Nicht aufschauen müssen. Mit großen staunenden Augen. Ich bin weit und breit immer die Kleinste gewesen. Aber das ist vorbei. Ich bin längst kein Kind mehr. Ich mach es euch nicht mehr leicht. Mich könnt ihr nicht mehr hin und her transportieren. Ich bin nicht mehr leise, ich mach nicht mehr, was man mir sagt. An mir wird man nicht mehr gesund. Ihr müsst euch jetzt selbst glücklich machen, ihr Lieben. Ich hab das ja gern getan. Damals. Ich kannte es auch nicht anders. Everybody’s Darling. Das hat ja auch seine schönen Seiten. When everybody loves you. Außer vielleicht die Rosemarie. Damals. Wir duzen uns jetzt, Frau Rottenmeier und ich. Sie macht Erwachsenenbildung. Gibt Deutschkurse für Ausländer. Sie kann brauchen, was sie gelernt hat. Manchmal sagt sie trotzdem noch sowas wie früher. Dass die doch froh sein sollen. Wo sie doch alles haben. Und eine Ruhe geben. Aber meistens bleibt sie entspannt, macht sogar Yoga. Wenn ich sie besuche, in Frankfurt, dann fragt sie mich, ob das stimmt, was man so hört aus der Schweiz. Sie war noch immer nicht hier. Ich reise gern, manchmal zusammen mit Klara, wir sind schon weit rumgekommen. Meistens fliegen wir von Basel oder von Bern, da gibt es kein Terminal E mit jodelnder Skymetro. Einmal möchte ich das erleben, dass ich irgendwo hinreise und sage: Ich komm aus der Schweiz. Und dann sagt jemand: Oh. Genf. Genfer Flüchtlingskonvention. Oder Dada. Und niemand erkennt mich. Luzern könnten sie sagen und die Festivals meinen. Sophie könnten sie sagen. Hunger oder Taeuber. Pipilotti Rist oder Rousseau. Giacometti oder Kübler-Ross. Dimitri oder Del Ponte. Godard könnten sie sagen. Oder Agota Kristof. In Deutschland kennen sie wenigstens noch den Emil. Und den Köppel natürlich. Vielleicht löst mich in Deutschland bald der Köppel ab. Was verbinden Sie mit der Schweiz? Uhren, Käse, Köppel. Der Peter findet das gut. Ach, der Peter. Immer hat er aus Angst gehandelt. Aus Hunger. Oder aus Wut. Manchmal denk ich, er ist euer heimlicher Held. Die Faust heben, im Rücken der anderen, den Rollstuhl den Berg runter. Aber trotzdem jede Woche ein Zehner aus Frankfurt. Ein Leben lang. Ich hätte ihn mehr beachten, ihm auch mal zuhören sollen. Tut mir heute noch leid, mit welchen Methoden ich ihn das Lesen gelehrt hab. Effizienter als der nette Herr Kandidat.[xii] Angst hab ich ihm gemacht. Gedroht hab ich ihm. Mit den Sprüchen aus dem ABC-Lehrbuch von Klara: Stehst du noch an bei RST. Kommt etwas nach, das tut dir weh. Willst du noch das X vergessen, kriegst du heute nix zu essen. Jetzt ist er selbst Kandidat und arbeitet mit genau solchen Sprüchen. Wir treffen uns manchmal am Bahnhof auf einen Kaffee. Er ist viel unterwegs. Bi de Lüt, sagt er. Aber nicht wegen der SRG. Mit denen hat er’s gar nicht gut. Es stört ihn kein bisschen, wenn er Geißenpeter genannt wird. Auch das Image macht ihm nichts aus. Solange sie mir nicht Ziegenpeter sagen. Aber dass die vom Fernsehen jetzt auch Asylsuchende, die im Bündnerland zu Hirten ausgebildet werden, als Geißenpeter bezeichnen, das ist ihm nicht recht. Heidi, sagt er, mein Heidi, wir müssen uns wehren. Und da hat er ja Recht. Wir müssen uns wehren. Bloß heiß ich nicht Heidi, er kann sich das einfach nicht merken. Ich bin nicht das Heidi. Adelheid ist mein Name. Bin weder Unschuld vom Lande noch heilige Einfalt. Und wenn ihr nicht aufhört damit. Ein Plakat noch. Ein Slogan. Wenn ihr mich weiter verfilmt, weiter verarbeitet, wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst. Dann verklage ich euch. Persönlichkeitsrechte. Davon habt ihr doch auch schon gehört. Oder nicht? Wenn ihr so weiter macht, habt ihr verstanden, dann verklage ich euch. Und ich gehe damit bis nach Straßburg.
* Dieser offene Brief vom 15.10.2015 ging an zahlreiche Zeitschriften der Schweiz, wurde aber, wegen der Nähe zum Wahltermin, nicht abgedruckt und von Adelheid daraufhin über Social Media verbreitet.
[i] Auch Adelheid hat sich an der erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne »Mir langets« beteiligt, um kurz vor der Wahl auf dem Cover der 20minuten gegen die Wahlwerbung der SVP zu protestieren.
[ii] Im Anschluss an das Heidi-Wahlauftakttheater sprach Nathalie Rickli auf der SVP-Delegiertenversammlung in St. Luzisteig am 22. August 2015 zum Thema »Kein Anschluss (sic!) an die EU«.
[iii] Dass die Migros ihre Heidi-Werbung 2011 in Neuseeland drehte, wurde nicht von allen KonsumentInnen geschätzt. Im Jahr darauf kehrte sie in die Schweizer Berge zurück.
[iv] Heidi Schoggi wird in Rumänien produziert und gehört der österreichischen Julius Meinl AG, mit dem berüchtigten »Meinl-Mohr« im Logo, der 2004 auf Druck der Öffentlichkeit rot eingefärbt wurde.
[v] Die neuseeländische Migros-Heidi hat blonde Zöpfe, die Heidi auf der MySwitzerland-Website ebenfalls.
[vi] »You may not know what I mean by the Angel in the House. I will describe her as shortly as I can. She was intensely sympathetic. She was immensely charming. She was utterly unselfish. She excelled in the difficult arts of family life. She sacrificed herself daily«. Aus dem Essay »Professions for Women« von Virginia Woolf.
[vii] Adelheid hat auch die Essays von Virginia Woolf für die Blindenbücherei aufgesprochen.
[viii] Auf Wunsch des Vereins »Raclette Suisse« integrierte die Produktionsgesellschaft eine Raclette-Szene im Film, die es vor der Filmpremiere bereits als TV-Werbung für Raclette zu sehen gab.
[ix] Die »Heidi Anime in 3D« von 2015 wurde bereits in 100 Länder verkauft.
[x] Gitti und Erika haben zuletzt die neue CD »Wolkenlose Gefühle« rausgebracht. Ihr Album mit dem Heidi-Titelsong hat sich 40 Millionen Mal verkauft.
[xi] Günther Klum ist seit 1996 Geschäftsführer der millionenschweren »Heidi Klum GmbH«.
[xii] Diesen Titel durfte im 19. Jahrhundert ein Hauslehrer mit Hochschulabschluss tragen.
Der Text ist im April 2016 in Viceversa Literatur 10, Jahrbuch der Literaturen "Heidi" erschienen.