Selbsthilfe
Ein Betriebstext (unveröffentlicht, aber einmal in Solothurn gelesen)
Von B., die mich eigentlich begleiten wollte, weiss ich, dass es täglich irgendwo in der Stadt ein Treffen gibt, in einer Bibliothek, einer Schule, einem Krankenhaus oder einem Pfarrzentrum. Ich müsse keine Angst haben, allein zu gehen, hat sie gestern am Telefon gesagt, bestimmt träfe ich ohnehin jemand, den ich kenne. Und tatsächlich sass schon vorhin im Tram schräg hinter mir einer, mit dem ich vor zwei Monaten vor winzigem Publikum gelesen habe, jetzt läuft er auf der anderen Strassenseite, er hat mich wohl nicht erkannt.
Die beiden Frauen, die vor dem Quartierzentrum rauchen, begrüsst er mit Nicken, die ältere von beiden kenne ich von einer Veranstaltung zu politischer Lyrik, sie begrüsst erst ihn und dann mich mit Namen. Ich zucke zusammen. Dabei hat mich B. auch diesbezüglich gebrieft. Das mit den „anonymen Autoren“ dürfe man nicht so genau nehmen. Zwar werde nie irgendein Nachname genannt, aber das sei in den meisten Fällen auch gar nicht nötig. Sie habe schon Buchpreisträger getroffen. Eidgenössische sowieso. Einmal eine Büchnerpreisträgerin auf Lesereise. Überhaupt sei alles ein bisschen wie Solothurn ohne Alkohol, kein Grund zur Aufregung.
In der letzten Reihe sitzt niemand. Ich nehme einen Platz ganz links an der Wand, gleich vor mir sitzen zwei Krimiautoren, die ich an den Hinterköpfen erkenne, der Kollege aus dem Tram stellt sich vorne vor der niedrigen Bühne zu drei Männern um die 50, die aussehen, als würden sie streiten. Den mit den schwarzen Locken kenn ich doch auch, ich weiss bloss nicht woher.
Ich müsse ja heute noch gar nicht nach vorne gehen, hat B. gesagt. Schau dir doch erstmal an, wie das läuft, meinte sie. Aber ich hab mir was anderes vorgenommen. Eine Autorin, die schon gegen Kaffeemaschinen, Live-Bands und Neonazis angelesen hat, bei minus 8 Grad die persönlichsten Gedichte in den Wind skandiert, wird ja wohl auch das hier über die Bühne bringen.
Der Schwarzgelockte blickt zur Tür und macht ein Zeichen, die Männer lassen sich in der ersten Reihe nieder. Jetzt weiss ich es wieder, er schreibt für die Zeitung, bloss sieht er auf dem Bild neben seiner Kolumne weniger müde aus, weniger traurig. Schreibt er nicht auch Romane? Die politische Lyrikerin lehnt sich an die Bühne und ergreift das Wort, sofort wird es ruhig. Sie heisse alle willkommen, besonders auch unseren Neuzugang, sagt sie. Alle drehen sich zu mir um.
Dann setzt sich die Lyrikerin, und als gäbe es eine abgemachte Auftrittsreihenfolge, erhebt sich eine junge Frau mit knallrot gefärbten Haaren und geht nach vorne. Mein Name ist Nele und ich bin abhängig, sagt sie. Und im Chor sagt das Publikum: Hallo Nele. Publikum ist natürlich der falsche Ausdruck.
Das grösste Problem, sagt Nele, habe sie im Moment mit den Kritiken, oder Kritikern, wie man wolle. Ihr letztes, ihr zweites Buch, sei kaum besprochen worden, dabei sei doch das erste ein solcher Erfolg gewesen. Das Wort Erfolg zieht ein Raunen nach sich, ein missbilligendes, kommt mir vor. Nele räuspert sich. Jedenfalls schaue sie jeden Tag, und sie meine jeden Tag, die grossen Zeitungen durch, entweder gehe sie ins Café oder zum Kiosk. Neuerdings, weil sie sich sonst ruinieren würde, auch in die Bibliothek. Jeden Tag, sie könne einfach nicht anders, dabei sei das politisch gar nicht ihr Ding, was sie da alles lese. Könnt ihr euch den intellektuellen Kollateralschaden vorstellen? Der schwarzlockige Kolumnist, dessen Zeitung man eher nicht gross nennen würde, nickt ostentativ. Und Nele sagt: Und dann geh ich ja nirgends mehr hin. Zu keiner Lesung, keinem Podium, ich geh nirgends mehr hin, wo ich einen Kritiker, eine Kritikerin treffen könnte. Das ist doch krank. Sie bleibe zuhause, sagt sie. Und dort überlege sie sich dann, was sie gerade verpasse, und ob es ihr nicht doch hätte helfen können, wenn sie hingegangen wäre, vielleicht dass sich eine Kritikerin an ihr Buch erinnert hätte, beim Anblick der roten Haare. Das stehe übrigens in ihrem Verlagsvertrag, sie dürfe die Haare nicht umfärben oder wachsen lassen, das sei ihr Markenzeichen, sie habe das tatsächlich unterschrieben, so naiv bin ich da noch gewesen, sagt sie.
Danke, Nele, sagen alle. Denn offenbar ist sie fertig mit ihrem Vortrag. Vielleicht sollte ich auch etwas an meinem Aussehen verändern, irgendwie radikaler, wenn mein Buch schon dezent ist. Und was soll ich denen erzählen, wieso habe ich nicht geprobt, mit B. oder wenigstens vor dem Spiegel. Wie soll ich beginnen? Der Anfang ist immer wichtig.
Hallo Albert, spreche ich automatisch mit, denn der schwarzlockige Kolumnist steht wieder vorne und sagt: Kritiken sind schon lang nicht mehr mein Problem. Früher schon, früher hätten sie ihn in die Beschaffungskriminalität getrieben. Lachen aus der ersten Reihe. Aber jetzt. Da gebe es doch viel besseres billigeres Zeug, das viel schneller einfahre. Instant Reward. Jetzt lachen alle. Nur die Lyrikerin dreht sich um und schaut in die Runde.
Jedenfalls, ich twittere jetzt, sagt Albert. Ich twittere schon eine Weile. Und nicht nur Termine, Links, Fotos, Kommentare. Er twittere jetzt seinen neuen Roman. Jeden Satz einzeln. Einer von den Krimiautoren schreibt Twittern? in sein Notizbuch. Und, sagt Albert, das sei auch formal spannend, eine Herausforderung. Er habe nie lange Sätze gemacht, aber jetzt sei das sein Programm. Stellt euch vor, sagt er, der 134. Satz ist schon 41 mal retweetet worden. In der ersten Reihe klatscht einer, bricht aber gleich wieder ab. Von B. weiss ich, dass Applaus verboten ist, genauso wie Alkohol oder Handys. Lachen sei Graubereich, hat sie gesagt, von Meeting zu Meeting verschieden.
Die Lyrikerin fragt: Und warum willst du aufhören? Albert schaut sie an, als hätte er nicht verstanden, dann sagt er, dass er nicht mehr schlafen könne, er sei immer online, wenn er nicht twittere, lese er, wenn er nicht lese, zähle er seine Retweets und Likes. Immer passiere etwas. Und er trinke jetzt noch mehr als sonst. Wie die meisten von uns, sagt er, habe er ja schon immer gern einen gezwitschert, wieder lacht wer, aber jetzt auf zwei Ebenen, er sei ja auch nicht mehr Zwanzig.
Danke, sagt die Lyrikerin, danke sagen auch wir. Sofort kommt ein anderer Mann nach vorne, stämmig, mit Glatze, hab ich auch schon gesehen, experimentelle Prosa. Er sagt, er sei Conrad und abhängig. Hallo Conrad. Das mit Amazon habe er weitestgehend hinter sich. Das mit den Amazon-Verkaufsrängen, das könne er sowieso vergessen. Einmal habe er zwei Drittel seiner Auflage aufgekauft. Nicht dass das so viel wäre, sagt er. Zwei Drittel der Auflage in einer Woche. Aber dreistellig sei er trotzdem nicht geworden. Bloss verschuldet. Er habe aufgehört, Amazon sei ja auch schliesslich der Feind. Aber dann sei das mit den Buchhandlungen losgegangen. Kennt ihr Mystery Shopping. Ich auch erst seit gestern, dabei mach ich das schon ein Jahr. Bei Thalia zum Beispiel. Die seien zwar auch der Feind. Aber manchmal kaufe er da sein Buch. Vor allem aber räume er um. In allen Buchhandlungen. Überall räume er sein Buch auf die von den grossen Verlagen bezahlten Tische, das sind die gleich beim Eingang. Entweder er stelle zwei andere Stapel aufeinander, von den Büchern mit den langen Titeln in imitierter Schreibschrift, und lege dann seinen Stapel auf den freigewordenen Platz. Was aber ja nur gehe, wenn von seinen Büchern genug da sind. Oder, sagt er, wenn von meinen nur eins da ist, lege ich es auf einen Stapel ähnlicher Farbe. Er lächelt. Für den Fall, dass gar keins da ist, und der trete leider immer häufiger ein, schmuggle er ein mitgebrachtes auf den Tisch. Das sei natürlich sehr heikel, so ein Manöver. Am Anfang hat es noch Spass gemacht, aber die Nerven, einmal habe man ihn erwischt. Ich hab aufgehört, sagt er, vor sieben Wochen, ich war in keiner einzigen Buchhandlung mehr.
Einer der Krimiautoren klopft mit den Fingerknöcheln auf den Stuhl neben sich, aber das Geräusch geht in unserem lautstarken Danke unter.
Die junge Frau, die jetzt aufsteht, kenne ich nicht. Sie steigt auf die Bühne. Niemand sagt was und sie beginnt, es klingt ein bisschen wie Rap. Ich bin Luna, voll drauf, voll auf Applaus. Häng an der Nadel. Vom Applausometer. Kennt ihr nicht. Macht nichts. Erklär ich euch später. Wieso darf sie performen? Scheinen sich auch ein paar andere zu fragen, der Rest, inklusive der Lyrikerin, hört aufmerksam zu, während Luna weiterreimt, Noten auf Quoten. Halt, sagt plötzlich sie selbst. Und dass es egal sei, wo sie auftrete, allein oder mit anderen, ob es ein Wettkampf sei oder nicht, sie habe immer ihr eigenes Applausometer, also einen Dezibelmesser, in der Tasche gehabt. Sie habe das gebraucht. Und als sie endlich geschafft habe, das Ding wegzugeben, da habe sie gemerkt, dass sie es längst verinnerlicht hat. Ich kann euch das auf zwei Kommastellen sagen, ich kann es euch genau sagen, wie laut ihr seid, das macht mich kaputt. Sie habe keine Ahnung, wie sie da rauskommen solle. Danke Luna, sagen wir leise im Chor.
Vor mir der Krimiautor fragt seinen Nachbarn, wieso diese Luna zu den Meetings kommen dürfe, er könne sich noch gut erinnern, wie lange er warten musste, weil er noch nicht veröffentlicht war. Schttt, kommt es von vorn und dann sagt die Lyrikerin: Für zwei haben wir noch Zeit, und schaut zu mir. Stattdessen steht einer aus der vierten Reihe auf, geht nach vorn und sagt, er sei Franz und abhängig, und ausserdem habe er keine Freunde mehr. Hat alles mit meinem letzten Buch begonnen. Wie er da in allen Gesprächen versucht habe, rauszuhören, ob sein Gegenüber das Buch schon gelesen oder wenigstens damit begonnen habe.
Auf dem Weg hierher hab ich noch gedacht, ich könnte einfach vom Googeln erzählen, aber das wäre viel zu banal. Ich kann diesen Leuten nicht erzählen, dass ich mich täglich google, obwohl ich den Alert hab, der mir regelmässig Neuigkeiten aus dem Leben meiner Namensvetterin schickt, grosses Tier bei der CDU.
Franz sagt: Ich bin immer unaufmerksamer geworden. Ich achte nur noch auf Zeichen. Hat sie es gelesen? Kennt er es? Und sobald klar ist: Nein, hat sie nicht, tut er nicht... schweife ich völlig ab, kann nicht mehr zuhören.
Facebook, das wäre zu ähnlich wie Twitter. Alles, was mir einfällt, ist öde oder viel zu persönlich. Ich hätte einen Text schreiben sollen.
Franz sagt, er habe völlig das Interesse an den anderen verloren, beleidigt sei er natürlich auch noch gewesen. Er habe sogar irgendwann den Entschluss gefasst, nur noch mit Menschen zu reden, die seine Werke kennen. Naja. Und deshalb eben. Keine Freunde mehr. Er sitze in einer Hütte in den Bergen, abgeschnitten von allem. Und sei ganz furchtbar allein.
Danke, Franz. Danke, sagen alle.
Und ich stehe auf und gehe aussen an den Reihen entlang. Bei der vierten halte ich an und setze mich auf den freien Platz neben Franz. Hast du noch Zeit für nen Kaffee, flüstere ich. Er schaut irritiert, dann nickt er. Ja, gern. Ich mag seine Stimme. Vorne schliesst die Lyrikerin die Sitzung und weist auf ein Freundschaftstreffen mit einer österreichischen Gruppe hin. Während sie von Busfahrt und freien Plätzen redet, schreibe ich Perücke?! auf einen Zettel, versuche ihn Nele durchzureichen. Ich darf Conrad nicht verpassen. Ich will ihm das vorschlagen. Dass wir gegenseitig unsere Bücher verräumen. Viel weniger riskant wäre das. Franz und Albert sind vielleicht auch dabei. Und Luna, die könnte doch Alberts Kolumne übernehmen, während Albert eine Auszeit nimmt, in der Hütte von Franz. Die politische Lyrikerin sagt den Satz, dass alles, was hier passiert, auch bitte hier bleiben soll. Dann wünscht sie uns eine gute Woche. Danke, sagen wir. Und stehen auf. B. hat recht gehabt, es geht einem wirklich besser.