Von A bis Z gelogen

Alter

Das Kind am Nebentisch fragt: Wie alt bist du? Die Mutter des Kindes legt dem Kind die Hand auf die Schulter und sagt, so etwas frage man eine Frau nicht. Und ich ärgere mich. Ich sage zu dem Kind und noch mehr zu der Mutter, dass man mich das natürlich fragen dürfe. Ich sei 50, sage ich stolz, woraufhin das Kind ganz begeistert ausruft: Wie meine Oma! Und ich denke an A.: meine Mutter. Wie sie neulich mal wieder zu mir gesagt hat, dass ich wie 35 aussehe. Für sie würde ich immer irgendwie 35 bleiben. Ich hab ihr widersprochen, habe gesagt, dass das doch Unsinn sei. Ist es ja auch. Mein Körper hat eine 50-jährige Geschichte, kann schon sein, dass einige Teile jünger sind, manches hat sich erneuert, meine Fingerkuppe zum Beispiel, von der ich mir vor Kurzem aus Unachtsamkeit ein Stück abgeschnitten habe, komplett wiederhergestellt, samt Fingerabdruck. Aber das meiste von mir, das Herz, das Gehirn, existiert doch seit einem halben Jahrhundert. Und trotzdem, wenn A. das mit der 35 sagt, freu ich mich jedes Mal.


Brüste

B. hat immer schon Brüste geliebt. Ihre eigenen und die von anderen. In der siebten Klasse ist sie einmal mit den Händen unter den Brüsten die Treppe im Schulhaus runtergerannt, weil sie wissen wollte, wie sich der BH fühlt. Mit 15 hat sie es total frustrierend gefunden, dass sie den Kopf nicht in den eigenen Brüsten versenken kann. Als unser Biologielehrer zwei Jahre später mit der Theorie kam, dass Brüste den Po auf der Vorderseite des Körpers vertreten, weil der in Zeiten des Aufrechtgangs als Signal für die Vagina ins Hintertreffen geraten sei, hat sie ihn gefragt, wo er diese heteronorme Scheiße herhabe. Es brauche doch keine Penetration, um Brüste zu lieben, hat sie gesagt, und alle im Kurs haben den Atem angehalten. Kurz nach dem Abi dann hat B. versucht, mich davon abzuhalten, meine Brüste verkleinern zu lassen. Ich habe es trotzdem gemacht. Sie waren zu schwer. Sie haben mich gestört. Sie haben mir wehgetan. Beim Treppen Runterlaufen. Beim Fußballspielen. Beim Rennen zum Bus. Nach der OP habe ich sie zuallererst B. gezeigt, die sich erschrocken hat, wegen der Narben. Und ein paar Wochen später gesagt, sie wären sehr schön geworden. Ich selbst habe meine neuen Brüste sofort gemocht. Weil sie so leicht waren. Weil ich mit ihnen so wunderbar schnell rennen konnte, schneller als die beste Stürmerin der Liga.


Cellulite

Nach Orangen benannt, diese Hügellandschaft, diese Buckelpiste für Anfänger*innen, Sandstrandunebenheit. Zeichen der Zeit natürlich. Veranlagung auch. Fühlt sich trotz allem immer noch weich an, zart, oft auch glatt, was mich selbst verwundert. Aber ich kenn ja nur eigene Haut auf eigener Haut. Wer fühlt da was? Pfirsichhaut hat man mir zugesprochen. Aber die Haut von Pfirsichen macht mich nervös, so wie Kreidegeräusche auf Tafeln, wie der Bast auf den Hörnern von jungen Böcken. Und so leicht zu zerstören, zu zerstoßen ist sie. Keine Schale, wie sie Orangen haben. Im Garten meiner Freundin C. in Ligurien wachsen Orangenbäume. Bei dem Wort Cellulitis, sagt sie, müsse sie immer an Handys denken, an eine Krankheit, die mit dem Cellulare zu tun hat.

Diäten

D. kennt jede Diät. Mayo. Atkins. 7 Körner. Sherry. Eiweiß. 7 Tage. Ananas. Trennkost. 7 Säfte. Hat sie alle ausprobiert. Und sie erkennt sie auch wieder, wenn sie den Namen geändert haben. Obwohl sie schon lang keine mehr macht. Obwohl sie mit dem Diätenmachen aufgehört hat wie andere mit dem Rauchen. Wenn jemand ihr Heilfasten vorschlägt, Detox, Clean Eating oder Intervallfasten, dann ist das, als würde man ihr eine Zigarette anbieten, sagt D. Sie spüre die Versuchung. Sie müsse sich ein bisschen zusammenreißen. Aber dann sage sie doch immer: Nein, danke. Als D. 32 war, hat sie mit den Diäten aufgehört. Und sich ihren allerersten Bikini gekauft. Ihr Bauch, sagt sie, habe gar nicht gewusst, dass es Sonne gibt.

Erzählungen

Alter vor Schönheit. Wenn sie das schon höre, sagt E. Als ob das eine das andere ausschließe. Überhaupt diese ganzen Erzählungen: Wer schön sein will, muss leiden. Immer weitergetragen. Das rege sie derartig auf. E. regt sich oft und gern auf. GNTM nennt sie Heidi‘s Great National Tournament of Misogyny. Die Erbsünde: Fastenbrechen mit Eva. Blutleere Mutterneidscheiße, sagt sie, wenn jemand Schneewittchen erwähnt. Und wenn sie Vorher-Nachher-Bilder sieht oder wieder mal einen Film, in dem eine den geltenden Schönheitsidealen entsprechende Person zu Beginn als unscheinbar oder gar unansehnlich verkleidet wird, spricht sie von Aschenputtels langem Schatten. E. hadert mit der Widerstandsfähigkeit der alten Erzählungen. Und damit, wie schwierig es ist, sich selbst neu zu erzählen.

Die weiteren 21 Buchstaben finden sich im dem von ZHdK und dem Fotomuseum Winterthur herausgegebenen Band Nachbilder, der im März 2021 bei Spectorbooks erschienen ist.

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