Das Schreibzimmer hat keine Koordinaten

Für Pius

Es gibt Tage, da liegt das Schreibzimmer (gänzlich unverhofft) an einem südlichen Meer. Die Fenster zum kleinen Balkon stehen offen. Weiter Blick. Salz in der Luft. Und auf meinem Kopf kringeln sich Locken. Krause Haare – krauser Sinn, hiess es früher. Aber an den Tagen, an denen das Schreibzimmer am Meer liegt, fällt es mir leicht, mich zu konzentrieren. Das Meer liegt ruhig da. Die Wellen schlagen mir einen Takt in den Text. Am Abend falle ich (rechtschaffen) müde ins Bett, den Takt noch immer im Ohr. 

Schon am nächsten Tag kann es sein, dass das Schreibzimmer die Schlösser ausgewechselt hat. Und ich steh vor der Tür und kann es kaum glauben. (Einfach ausgewechselt!) Als endlich der Schlüsseldienst kommt, ist es längst zu spät, um noch zu beginnen.

Dann wieder ist es eine Berghütte, abgeschieden, an einem zugigen Hang. Die Feuchtigkeit dringt durch die Ritzen, es ist unwirtlich kalt. Die Finger, die Füsse. Wenn man so sitzt, wird es immer noch kälter. Warum mach ich das, denke ich, sitze hier mitten im Nebel, ganz allein, ohne Feuer. Ich muss doch nicht. Aber Sitzenbleiben bedeutet im Schreibzimmer Fortkommen. Irgendwann sinkt der Nebel ins Tal. Es wird heller und wärmer. Die Sicht ist phantastisch.

Viel zu oft liegt das Schreibzimmer voller Papiere. Ungeöffnete Briefumschläge. Noch zu bezahlende Rechnungen. Halbgelesene Briefe von Ämtern. Mehrseitige Anträge mit äusserst komplexen Komposita. Das Schreibzimmer liegt im Niedriglohnsektor. Ein Arbeitsplatz, dem der Platz fehlt. Sicherheit. Und die meisten Versicherungen. Ich kann so nicht schreiben.

Ganz anders die Tage des Handwerksbetriebs. Wenn das Schreibzimmer Werkstatt ist. Ein-Personen-Schreib-Werkstatt. Schriftstellerei. Und Schriftstellen klingt doch nach Handarbeit. (Herstellen von Schrift). Arbeit mit Material. Mit Wörtern natürlich. Und allem, was da ist. Mit Werkzeugen auch. Aufträge kommen herein. Von mir selbst und von anderen. Werden erfüllt. Ich sitze dort stundenlang, im Schreibzimmer, das eine Werkstatt ist (autorisierter Betrieb), und ich schreibe. Und schreibe. Und schreibe.

Nicht selten auch draussen. Sehr oft nämlich ist das Schreibzimmer in Gesellschaft. In einem Park, einem Zugabteil (in Bewegung), häufig an einem kleinen Tisch im Café. Unter Menschen, die lesen, reden, lachen, auch streiten. Wie gerne ich unter Menschen schreibe! Menschen, die nichts von mir wollen. Zu denen ich nicht in Beziehung stehe. (Wenn sie nicht meine Sprache sprechen, ist es am besten). Wie sehr ihre Anwesenheit hilft. Dass sie mich sehen, während ich arbeite. Dass sie mein Schreiben bezeugen. Ich fühl mich von ihrer Gesellschaft beschützt.

Denn es gibt auch Tage, da wird es auf einmal zur feindlichen Arbeitsumgebung. Das Schreibzimmer. Ich mobbe mich selbst. Subtil erst. Und dann auch mit offenen Angriffen. Als endlich die Mediation greift, hab ich mich bereits krankgeschrieben. Für ein paar Tage.

Zum Verrücktwerden. Manchmal. Das Schreibzimmer. Ein Zimmer-Turm. Schlafzimmer der Vernunft. Kreisssaal für Ungeheuer. Gefährliche Gegend. Erst neulich wieder wurde es zur Gefahrenzone erklärt. Zum Krisengebiet. Von privaten Reisen ins Schreibzimmer wird abgeraten. Das hält mich natürlich nicht ab.

Wochenlang kann es auch harmlos daherkommen. Zimmer halt. Arbeitszimmer. Und dann tret ich morgens ein und es ist eine neue Tür in der Wand. Die war gestern noch nicht da. Beunruhigend ist gar kein Ausdruck. Das Schreibzimmer hat eine neue verschlossene Tür. Mit Sicherheitspanel. Der Daumenabdruck funktioniert, auch die Iriserkennung. Aber ich kenne den Code nicht. Immer nur drei Versuche pro Tag. Dahinter wohnt garantiert eine Geschichte.

Frauenzimmer. Ja auch. Im ursprünglichen Sinne. Im Sinne des Freiraums.

Und Rückzugsort. Safe House. Ich kann mich in Sicherheit schreiben. Vor der Welt. Ihren Ablenkungen. Ihren Bedrohungen. Das Schreibzimmer, in dem ich alles hab, was ich brauche. Selbstversorgerin. (Was ist das Gegenteil von bedürftig?), Eremitin auf Zeit. 

Es gibt auch Tage, an denen das Schreibzimmer Eisfläche ist, rundherum Menschen mit Zahlen auf Tafeln. Die hab ich selbst reingelassen. Auch die Musik hab ich ausgewählt. Und ich dreh mich. Fahr rückwärts, nehm Anlauf. Ich springe. Den dreifachen Toeloop. Damit kann ich punkten. Darf bloss nicht stürzen. Gestanden. Ein bisschen gewackelt. Aber gestanden. Rundherum anerkennendes Lächeln. So kann ich nicht schreiben.

Aber ich kann auch ganz andere einladen. Zum Gespräch. Zur Verstärkung. Ich kann im Schreibzimmer Konferenzen abhalten, Séancen sogar. Das Schreibzimmer ist übrigens meistens auch eine Bibliothek.

Und zum Glück immer wieder für ein paar Wochen genau dieser berühmte Raum «of my own». Zu dem (unbedingt) die 500 Pfund im Jahr gehören. Schreiben. Unter den besten Bedingungen.

Das Schreibzimmer, gerade jetzt, ist ein Dorf im Tessin. Loggia. Café. Bar. Osteria. Spaziergang der Maggia entlang. Wanderung zur Kapelle. Der kleine Tisch beim Kamin.

Da bin ich.

Hier kann ich schreiben.

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