Bitte entfernen Sie dieses Plakat!

Vor meinem Haus hängt jetzt so ein Plakat. Es sieht aus, als ob es dazu gehörte. Zu meinem Haus. Es klebt an der Hecke. Ich finde, man sollte Hecken schützen, vor solchen Plakaten. Passanten. Und die Kinder im Garten. Mein Haus ist natürlich gelogen. Ich darf nur drin wohnen. Eine deutsche Schriftstellerin in der Stadt, die so durchschnittlich schweizerisch sein soll, dass mich ständig Marktforscher anrufen. Eine Schweizer Autorin. Weil ich seit acht Jahren in der Schweiz lebe und schreibe. In manchen Buchhandlungen stehe ich unter Schweizer Autoren. In anderen nicht. Sollte ich einen Preis gewinnen, da bin ich mir sicher, werde ich eine Schweizer Autorin sein. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich nicht hinter diesem Plakat leben will. Und wenn ich es nicht wegschreiben kann, bliebe mir dann nur übermalen? Vielleicht ist das schon ein ausschaffungsrelevantes Delikt. Vor meinem Haus hängt ein „Ivan S.-Plakat“. Ivan S., Vergewaltiger. Bald Schweizer? Es gibt auch ein „Ismir K., Sozialbetrüger-Plakat“. Und eines mit „Detlef S., Kinderschänder“. Die hat alle „Alexander S., Werber ohne Werte“ entworfen. Ein Landsmann von mir. Ein Werber, der weiss, wie man Massen mobilisiert. Mit Angst. Der Symbole besetzt. Das kann jeder, der skrupellos ist. Der sich nicht scheut, eine Bildsprache zu verwenden, die schon in den 30er Jahren in Deutschland funktioniert hat. Ich will nicht hinter einem Plakat leben, das gegen den Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstösst. Das diskriminierend ist und hetzerisch. Ich will nicht hinter einem Plakat leben, das zu einer Drei-Klassen-Justiz aufruft. Das ein Problem konstruiert, um Stimmung zu machen. Ich will hinter so einem Plakat nicht leben. Bitte entfernen Sie dieses Plakat! 

 

Erstmals erschienen am 23.10.2010 in der Berner Zeitung / Oberaargau

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